G I P | S E L L E U T K A DAS SINDELFINGER WINTERMÄRCHEN DAS SINDELFINGER WINTERMÄRCHEN Aus der Sindelfinger Männerbande im Schwabenalter, die 2008 auf dem Klostersee die Zeit zurückdrehte, wurde eine richtige Mannschaft mit dem Namen Iceager. Text Jürgen Wegner Es ist ein Wahnsinnswinter 2008. Die Sonne strahlt, die Seen schließen sich. Und die Sindelfinger Jungs, die längst im Schwabenalter sind, erinnern sich an früher. An damals, als sie sich in den 70ern ihre ers- ten Schlittschuhe anzogen, die ihre Eltern im Eisen- warenladen von Eugen Klein am Marktplatz gekauft hatten. Ein paar Stecken wurden zu Schlägern und die Buben zu kleinen Erich Kühnhackls. 2008 holen sie wieder den Puck aus dem Keller und treffen sich auf eine Runde Eishockey auf dem Eisweiher oder dem Klostersee. Die halbe Stadt ist bald auf den Kufen oder schlürft heißen Tee und Glühwein auf dem Mäuerle, weshalb es schnell zu eng wird für die Bande. Worüber sich die wieder Kind gewordenen Mannsbilder zunächst ärgern, soll sich als Glücksfall erweisen. Mal auf dem Magstadter Hölzersee, dann auf dem Katzenbachsee finden sie Eisflächen, die sie erst mit Schneeschippen freiräu- men um dann auf Torejagd zu gehen. Dann tauchen diese Deutschrussen auf. Nach ein paar Toren meinen diese: „Ihr solltet mal richtig spie- len.“ Morten Rohlfes, Exil-Sindelfinger in München, macht aus dem „solltet“, ein „müsst“. Damit liegen die Iceager in den Wehen. Das Geburtsdatum müsste der 27. Dezember 2008 sein, allerdings sind sich die Haudegen 15 Jahre später gar nicht so sicher, ob das auch stimmt. Keinen Zweifel gibt es dagegen an der Bedeutung des Tages. Die Jungs brauchen eine Halle. Das muss einfach sein. Weil es in Sindelfingen keine gibt – eine Tatsache, gegen die sie heute noch leiden- schaftlich angehen –, suchen sie andernorts und be- kommen in Reutlingen ihre Eiszeit: Samstagmorgen, 8.30 Uhr. Ein Drama damals, heute ein Glücksfall. „Absolut familienfreundlich“, sagt Kapitän Aron Precht. Joachim Gießler erklärt das: „Auf dem Rück- weg bringst du Brötchen mit, besser geht‘s nicht.“ Jedenfalls stehen die Sindelfinger zu frühen Unzei- ten auf dem Reutlinger Eis. Sie sehen putzig aus mit ihren Fahrradhelmen oder den Knie- und Ellbogen- schonern, die andere beim Inlineskaten tragen. Jörg Mornhinweg stopft sich die Fußball-Schienbein- schützer unter die Lifthose und kann sich deshalb kaum noch bewegen. Und Rainer Stahl zieht sich die Motocross-Jacke an, bevor er sich ins Tor stellt. Wobei – meistens liegt er auf der Linie: „Die Jungs konnten den Puck nicht lupfen“, erklärt er heute seine sagenhafte Torwarttechnik von einst. Die Partie gewinnt an Fahrt, die Jungs zahlen Lehrgeld. Als das erste Mal wegen einer Platzwunde Blut fließt, sagt der Eishallen-Chef Tilo Fritz: „Die kommen nicht mehr.“ Damit liegt er meilenweit daneben. Plastik ist nicht so gut Der Samstagmorgen wird zum Pflichttermin und die Jungs lernen dazu. Jörg Mornhinweg zum Beispiel, dass so ein Plastik-Schlittschuh gar nichts taugt: „Da kriegst du einmal den Puck dagegen und brichst dir den Zeh.“ Auch gescheite Handschuhe sind keine schlechte Idee. Und als Morten Rohlfes dem zum Goalie ernannten Rainer Stahl eine ausrangierte Tor- wart-Montur mitbringt, ist dieser stolz wie Oskar. Die Erkenntnis, dass Eishockey-Klamotten schnell „stinken wie Verwesung“, wie Jörg Mornhinweg sagt, ist eher lustig als ein Hindernis. Peu à peu rüstet die Truppe auf, hat irgendwann sogar blaue und weiße Trikotsätze. Auf den Teamnamen „Iceagers“ kommen sie, weil ein „Ager“ halt auch nicht mehr taufrisch ist. Für das Wappen braucht es ein Maskottchen, und das ist im Rattenhörnchen „Scrat“ aus den Ice-Age-Filmen schnell gefunden – allerdings leicht abgewandelt, um möglichen Marken-Streitereien aus dem Weg zu gehen. „Wir wurden bald zur am besten angezogenen Hobbymannschaft überhaupt. In Sachen Merchandi- sing macht uns keiner etwas vor“, sagt Andreas Krä- mer, auch ein Mann der ersten Stunde. Und das sogar mit personalisierter Eishockeytasche. Mit Name und Nummer. So etwas bekommt man bei den Iceagers zum runden Geburtstag. Wo gibt es schlechte Gegner? Beim ersten der jetzt schon zehn Trainingslager sieht das Team dagegen noch ziemlich wild aus. Wie Kraut und Rüben geht es zu, sowohl ausrüstungstechnisch als auch auf dem Eis. Die drei Tage in Pilsen werden legendär, auch weil es da das erste Pflichtspiel gibt. Die Sindelfinger hatten in Tschechien Einheiten und Coach gebucht. Dieser heißt Martin Simak und be- kommt einen Auftrag: „Er sollte uns das schlechteste Hobbyteam raussuchen, das er finden kann“, sagt Joachim Gießler. Klar, dass die Trauben trotzdem hoch hängen. Aber so hoch? Es hilft nicht einmal, dass die Teams die Keeper tauschen und Rainer Stahl bei den Tschechen 26 | 27